Angst

Inspiriert von einer Schreibübung und einem satirischen Sketch …

»Juuuuuuuuuule! Mach hinne, ich will los!«

»Ja, ja, ich komm ja schon«, murmelte Julia und prüfte noch einmal den Inhalt ihrer Tasche. Mühsam wühlte sie mit den Fingern unter die zusammengerollte lange Hose und schob, so gut es ging, den auf Kleinstformat zusammengefalteten Rollkragenpullover zur Seite. Der Deckel mit dem eingesteckten Strohhalm? War da. Schülerkarte und das Kleingeld für den Heimweg mit Bus und Bahn? Steckte abgezählt in der Innentasche. Der Bund mit den vier langen Schlüsseln? Auch den konnte sie ertasten. Das Pfefferspray? Ja, an Bord.

Die Jungs hatten gut reden, dachte sie, als sie Robert aus dem Nachbarhaus unten noch äffen hörte: »Weiber! Was hat mich geritten, so ein Exemplar mitzunehmen? Bis die fertig ist, haben die anderen schon das dritte Bier intus.«

Sie flog förmlich die Treppe ihres Elternhauses hinunter, schlüpfte in ihre Sneakers und stand auch schon vor Robert. Er taxierte sie kurz, sein Blick änderte sich von Missbilligung zu so etwas wie … Zufriedenheit? Musste sie jetzt etwa erst vor seinen Augen bestehen, bevor er sie auf die Party im Club mitnahm? Nicht dass sie und Robert ein Paar wären, Gott behüte! Er zählte, streng genommen, nicht mal zu ihrem engeren Freundeskreis. Er teilte lediglich mit ihr das Schicksal, weit außerhalb der Großstadt zu wohnen – und im Gegensatz zu ihr war er schon 18 und hatte ein Auto.

Auch heute galt es, einen achtzehnten Geburtstag zu feiern, den von Yannick. Natürlich leistete sich Familie Stinkreichs Sohn eine entsprechende Party im angesagtesten Club der Stadt. Nicht dass Julia ihn besonders mochte, aber sie freute sich aufs Feiern mit ihren Schulfreundinnen. Und Yannick hatte großzügig Bons ausgegeben, sodass sie trotz Ebbe in der Taschengeldkasse wohl heute nicht durstig bleiben müsste.

Wummernde Bässe und stickige Luft schlugen ihnen entgegen, als der Türsteher sie mit einem kurzen Nicken durchließ. Robert preschte förmlich in den Club hinein. Julia dagegen blieb im Inneren kurz stehen, um sich einen Moment lang an diese Atmosphäre zu gewöhnen und sich zu orientieren. Wo waren die Toiletten? Wo war die VIP-Lounge, in der sie ihre Klassenkameraden finden würde?

*****

»Puh, ich brauch dringend was zu trinken«, japste Julia, die sich schon eine geraume Weile im Kreis ihrer Freunde aus der Schulklasse auf der Tanzfläche verausgabt hatte. Lena nickte zum Zeichen, dass sie verstanden hatte, und Julia zwängte sich durch die tanzenden Leiber zur Bar vor. Sie sparte es sich, gegen den Lärm anzuschreien und hielt dem Barkeeper nur den Bon für ihren zweiten Longdrink des Abends hin. Von ihrem Barhocker aus ließ sie den Blick über die Menschenmenge schweifen.

Alle Mädchen behielten ihre Getränkegläser in der Hand, die meisten legten eine Hand über das Glas, andere hatten – wie Julia – einen Silikondeckel mit durchgestecktem Strohhalm daraufgesetzt. Vorsichtig zog sie den Deckel von ihrem Glas ab, um das Stück Ananas herauszufischen. Sie mochte es am liebsten, wenn es noch nicht mit Alkohol vollgesogen war. Jemand rempelte sie an, sodass das Glas überschwappte und einiges von dem klebrigen Cocktail auf ihrem Paillettenshirt landete. Mist! Ärgerlich drehte sie sich zur Seite, um dem Übeltäter ordentlich die Meinung zu geigen. Wenigstens entschuldigen hätte der sich ja wohl können!

Nur Sekundenbruchteile später legte sich auf der anderen Seite eine Hand auf ihren Po. Sie fuhr herum und funkelte den zahnspangig grinsenden Typen an. »Nun hab dich nicht so, Kleine. Wir sind doch hier, um Spaß zu haben, oder?«

»Ja, aber nicht so und nicht mit dir!«, fauchte sie, sprang von ihrem Hocker und machte sich auf die Suche nach einem anderen Platz. Ganz automatisch griff sie nach ihrem Cocktailglas und dem Deckel.

Als sie ein paar Schritte weiter ihren Drink ansetzen wollte, legte jemand nachdrücklich die Hand auf ihren Arm. »Lass den stehen!« Die Worte waren kaum zu verstehen bei dem Lärm. »Du hast den gerade bestimmt eine Minute offen rumstehen lassen, ohne drauf zu achten.«

Wehmütig betrachtete Julia das Glas. Der war lecker gewesen und noch einen Bon für diese Sorte Longdrink hatte sie nicht mehr. Seufzend stellte sie das Glas auf dem nächstbesten Tischchen ab. »Hast ja Recht. Danke, Bettina!«

*****

Immer wieder blickte Julia auf ihre Armbanduhr. Ihre Clique hatte gerade so richtig Spaß, ihr heimlicher Schwarm saß auf Tuchfühlung neben ihr. Sie wollte jetzt nicht gehen, aber wenn sie sich nicht beeilte, war die letzte Bahn weg. Der Einzige hier, der in ihre Richtung wohnte, war Robert – und der hatte zum einen mächtig getankt und zum anderen ja im Vorfeld schon festgelegt, dass er bei seinem Kumpel übernachten würde. Und Taxi? Das lag nun weder in ihrem Taschengeldbudget noch in der Haushaltskasse ihrer Eltern …

Es blieb ihr keine Wahl und nach einer raschen Verabschiedung drängelte sie sich durch die Menge, wechselte auf der Toilette ihr Outfit und mutierte mit zu weiter langer Hose und schlabbrigem Rollkragenpullover von der Partymaus zum Dorf-Doofchen. Nicht zum ersten Mal kroch Wut in ihr hoch. Warum musste so etwas sein, damit man als junge Frau einigermaßen sicher nach Hause kam?

Kühle Nachtluft empfing sie draußen und wie immer dauerte es eine ganze Weile, bis Julia hier draußen wieder hören konnte. Sie war noch so gut wie nüchtern und in Sneakers war es auch kein Problem, den kurzen Weg entlang der immer noch belebten, hell erleuchteten Hauptstraße bis zum Bahnhof im Sprint zurückzulegen. Das Piepsen der Türschließer ertönte bereits, aber Julia schaffte es noch, in den Waggon zu hechten. Puh, das war mal wieder knapp!

Während ihre Atmung sich wieder normalisierte, scannte sie ihre Mitfahrgäste: Zwei Männer mittleren Alters in guten Anzügen, die in ihre Handys vertieft waren. Eine Frau um die dreißig mit einem schlafenden Kleinkind im Arm. Am lautesten war eine Vierergruppe Jugendlicher, die sich platte Witze erzählten. Sie schienen aber nicht betrunken. Erleichtert ließ Julia sich auf einen der freien Sitze fallen. Hier dürfte ihr kaum etwas passieren, genauso wenig wie im Bus nachher. Aber ihr grauste vor dem Fußmarsch von der Bushaltestelle bis zum Haus ihrer Eltern. Das letzte Haus vor dem Waldweg, der nur noch den guten Kilometer bis zum Einödhof führte.

*****

»Oh, toll!«, flötete sie überlaut ins nicht verbundene Handy. »Glückwunsch zum schwarzen Karate-Gürtel! Ich bin auch gleich da, dann trinken wir noch einen Sekt auf die bestandene Prüfung.« Sie kam sich selten dämlich vor, aber sie hatte mal gehört, dass sowas Angreifer abschreckte. Trotzdem schob sie jetzt ihr Handy in die Tasche.

Die Schritte kamen näher.

Sie schluckte. Ganz automatisch beschleunigte sich ihr Schritt. Eine Gänsehaut kroch über ihren Körper, der kalter Schweiß auf dem Fuße folgte. Der Dämon setzte sich mit ganzem Gewicht auf ihre Brust, drückte ihr den Ellbogen auf die Kehle. Ihr Mund war trocken, die Angst schmeckte wie die trockene Semmel, die beim Kauen immer mehr wird. Dort wo die Straßenlaternen auch nach 22 Uhr noch brannten, hatte sie sich umgesehen. Es war ein großer, kräftiger Typ mit Trenchcoat. Mehr hatte sie nicht erkennen können, weil er die Kapuze eines Hoodies tief ins Gesicht gezogen hatte.

Sie fahndete nach dem Schlüsselbund in ihrer Handtasche. Da, endlich bekam sie es zwischen den Falten ihres klebrigen Shirts zu fassen. In die Faust nehmen, zwischen den Fingern jeweils einen Schlüsselbart herausschauen lassen. Die Schritte wurden lauter, fast glaubte Julia, schon seinen Atem im Nacken zu spüren. Sie schluckte an ihrer trockenen Semmel herum.

Reiß dich zusammen! Keine fünfhundert Meter mehr. Sollte sie laufen? Wieder griff sie in die Tasche, zog den Deckel von der Pfefferspraydose, tastete die Öffnung ab und fixierte sie so in der linken Hand, dass der Daumen sozusagen am Abzug lag. Und dann begann sie zu laufen.

Die Schritte hinter ihr wurden ebenfalls schneller, er hielt den kurzen Abstand konstant. Julia begann zu zittern, bekam kaum noch Luft. Sie musste wieder in Schritt fallen, wenn sie nicht ersticken wollte an ihrer Semmel. Eine Straßenecke noch! Was sollte sie loslassen, um den Schlüssel parat zu haben, das Pfefferspray oder die Schlüsselbundwaffe? Sie entschied sich für die Waffe, vermutlich würde sie ohnehin nicht fest genug zuschlagen. Hundert Meter vor der rettenden Haustüre rannte sie los, als sei der Leibhaftige hinter ihr her – und das war er ja auch.

Zwei Stufen hoch, Schlüssel rein – glücklicherweise traf sie unter der Beleuchtung des Vordachs sofort. Im Umdrehen sah sie den Typen, wie er gerade den ersten langsamen Schritt auf den kiesigen Waldweg machte. Dann knallte sie die Tür zu.

© Karin Schweiger 2023

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