Meine erste Lesung

Eine kleine Geschichte, die inspiriert ist von einer Literaturausschreibung …

Hektik. Sie kommt plötzlich und völlig unerwartet. Und sie stört die trügerische Idylle. Das Läuten des Smartphones kann nichts Gutes bedeuten. Vier Köpfe schnellen hoch und lassen die auf den Tischen liegenden Papierstapel in unterschiedlichem Ordnungszustand aus dem Fokus der Aufmerksamkeit.

„Petra hat gerade abgesagt.“ Sandra lässt die Hand mit dem Smartphone sinken und blickt in die Runde. „Sie hustet sich die Seele aus dem Leib und hat inzwischen auch Fieber.“

Die Blicke der anderen senken sich wieder auf die Tische mit den Papierstapeln. Geschäftige Hände sortieren Blätter. Von rechts nach links, von oben nach unten. Niemand sieht auf.

„Karin, dann musst du die Lesung halten. Wir anderen können ja alle morgen nicht.“

Ich? Das meint sie nicht ernst! Ich habe noch nie eine Lesung gehalten. Ich kann nicht vor anderen sprechen. Das konnte ich schon in der Schule nicht. Und meine Stimme ist … Wie hat der Kollege das damals so charmant formuliert? Nicht angenehm und nicht mikrotauglich. Und vor allem …

„Das geht nicht. Wer soll denn sonst die Technik bedienen?“ Ich kann mich schließlich nicht teilen. „Dann müssen wir die Lesung absagen. Wegen Erkrankung. Sind die Leute seit Corona gewöhnt.“

„Auf gar keinen Fall!“, ruft Erwin dazwischen. „Wir haben über zehn Buchungen und da kommen sicher auch einige Leute ohne Anmeldung. So viel hatten wir noch nie.“

„Das mit der Technik ist wohl wirklich das kleinste Problem. Dann steht der Laptop eben neben dir und du klickst zwischendrin selber weiter.“ Sandra fegt mein stichhaltigstes Argument mit einem Satz vom Tisch. Sie sieht das so einfach. Klar, sie muss das ja auch nicht schaffen. Ganz kurz geht mir durch den Kopf, welche Aufgaben an der Technik zu erfüllen sind – und wie sie mit den gelesenen Texten zusammenspielen. Keine Chance! Ich bin doch keine vielköpfige Hydra!

Gerade will ich den Mund zu einem Protest öffnen, da sehen sie mich alle wie auf Kommando an. Viermal Dackelblick vom Feinsten. Irgendjemand sagt: „Du kannst unser gemeinsames Buch jetzt nicht einfach fallen lassen. Nicht, nachdem wir so um diesen Lesungstermin gekämpft haben.“

Ich war noch nie gut darin, „nein“ zu sagen. Und schon gar nicht war ich jemals gut darin, ein Projekt, bei dem ich mitmische, im Stich zu lassen. Ich will es nicht, aber wie von außen beobachte ich mich beim Nicken.

Die Nacht ist furchtbar, Stunde um Stunde schlage ich mir damit um die Ohren, die Texte laut zu lesen und zu verinnerlichen. So lange, bis mein Mann protestiert, weil er nicht schlafen kann. Also erstelle ich Ablaufpläne, bis ins Kleinste detailliert. Den Rest der Nacht teile ich mit wirren Träumen und hin- und hergewälzten Gedanken.

Der Wecker erlöst mich. So müssen sich Zombies fühlen. Ein kurzes Telefonat mit meiner besten Freundin, die eine Meisterin darin ist, meine Nerven zu beruhigen. „Wenn du falsch liest, änderst du einfach die Reihenfolge. Es weiß doch niemand, wie es hätte sein sollen.“ Auch wieder wahr, aber … „Kein Aber“, fährt sie mir in den Gedanken. Sie kennt mich zu gut.

Viermal wechsle ich das Outfit. Das eine erscheint mir nicht seriös genug, da nächste kneift und das dritte erweist sich nach einem Blick aus dem Fenster als zu luftig. Wie ich mein Auto unfallfrei zum Veranstaltungsort gebracht habe, kann ich nicht mehr nachvollziehen. Natürlich bin ich früh dort. Viel zu früh, wie mir der genervt-giftige Blick der Angestellten zeigt, die mir – „jetzt schon?“ – die Tür aufsperrt.

Als alles am Platz und die Technik installiert ist, versuche ich mich mit Yogaübungen zu beruhigen. Atmen. Ein, aus, ein, aus. Ruhiger! Ich stelle fest, dass meine Hände schweißnass sind, und wische sie automatisch an meiner Hose ab. Erschrocken sehe ich nach, ob die Spuren an dem hellen Stück zu sehen sind. Sicherheitshalber lege ich mir ein Taschentuch zurecht. Fürs nächste Mal.

Mein Herz jagt und möchte mir aus dem Hals springen. Die ersten Gäste finden sich ein. Kann man noch nervöser werden? Ach, du liebes bisschen! Der Redakteur des Lokalblattes ist tatsächlich gekommen. Na, Glückwunsch! Dann wird mein Komplettversagen morgen auch noch in der Zeitung breitgetreten.

Inzwischen ist das fünfte Taschentuch durchnässt vom Schweiß meiner Hände. Petra schickt eine WhatsApp-Nachricht mit gedrückten Daumen. Ach du Schreck – ganz vergessen. Ich muss ja das Handy stummschalten. Schnell verschwinde ich ein letztes Mal auf die Toilette – nicht, dass ich später mit zusammengekniffenen Schenkeln lesen muss. Stopp, kurz in den Spiegel sehen. Ganz sicher schwitze ich auch im Gesicht – verläuft die Wimperntusche schon?

Unerbittlich krabbelt der große Zeiger der Wanduhr im Veranstaltungssaal an der Zwölf vorbei. Die beiden obligaten Begrüßungsreden registriere ich akustisch, vom Inhalt bleibt mein Gehirn völlig verschont. Ein letzter Blick zum Laptop – ja, das Hintergrundbild stimmt. Es kann losgehen. Vielmehr: Es muss losgehen. Ich stehe auf …

Der Einstieg gelingt, ich habe auch nicht vergessen, meinen Namen zu nennen. Und den Leuten dafür zu danken, dass sie gekommen sind. Dabei hätte ich es lieber, sie wären alle zu Hause geblieben.

„Sie alle, meine Damen und Herren, kennen Victor Schwankenklein …“

Es dauert, bis mein Gehirn begreift, dass ich mir einen äußerst peinlichen Versprecher geleistet habe. Diese blöde Herumalberei letzte Woche! So ein Namensverhunzer musste ja im Unterbewusstsein kleben bleiben. Mein Panikzentrum, das sich gerade zu entspannen begonnen hat, fährt erneut hoch zu ungeahnter Leistung. Los, du musst dich entschuldigen! Ich bringe keine Silbe heraus, im Gegenteil. Ich bekomme nicht einmal Luft.

Ein dröhnendes Lachen hebt sich aus dem Klangteppich des Kicherns und Giggelns heraus. „You made my day!“, ruft die zugehörige Stimme. „Der schafft’s problemlos in meine Top Ten!“

Mein Panikzentrum hat die Segel gestrichen, die Atmung funktioniert wieder. Ich vollende den Einleitungssatz und klicke auf das nächste Video-Emblem. Noch im Klicken bemerke ich, dass ich mit der Maus verrutscht bin und den falschen Filmschnipsel geöffnet habe. Der Luftmangel engt meine Kehle erneut ein. Mein Herz hat es inzwischen aufgegeben, die Katastrophe mit einer Akkordleistung nach der anderen zu begleiten. Ist wohl auch besser so.

Während der knappen Minute Videolaufzeit tausche ich die Texte. Oh Gott, der Part, in dem ich die Stimmen wechseln muss! Na, denke ich sarkastisch, das Krächzen des Raben dürfte mir heute nicht schwerfallen.

Zum ersten Mal seit Beginn der Lesung bekomme ich bewusst mit, dass die Leute applaudieren, sobald ich das letzte Blatt des Lesestücks aus der Hand lege. Sind die so höflich?

Die Hälfte ist geschafft, ich werde ruhiger. Ein weiteres Mal verlese ich mich, schaffe es aber, den Satz so zu drehen, dass er trotz des falschen Wortes Sinn ergibt. Und dann halte ich das letzte Blatt Papier in der Hand. Der allerletzte Klick auf einen Video-Button. Es ist zu Ende!

Kaum blendet sich das letzte Bild aus, brandet tosender Applaus auf. Ich lasse meinen Blick über die Anwesenden gleiten. Verwundert nimmt mein Hirn das Geräusch von anerkennenden Pfiffen wahr. Wen meinen die? Kurz klicken in meinem Gedächtnis die Worte meiner besten Freundin von heute Morgen auf: „Man merkt einem Menschen maximal zwanzig Prozent seiner Nervosität an. Außenstehende weniger.“

Zum ersten Mal erlaube ich mir, einen Schluck aus dem bereitgestellten Wasserglas zu nehmen. Mein Mund fühlt sich an, als hätte ich die Wüste Gobi durchlaufen. Ja, ich weiß, jeder Vorleseprofi rät zu regelmäßigem Trinken. Mein Hals hätte es zu schätzen gewusst. Aber ich hatte viel zu viel Angst davor, mich zu verschlucken und dann einen Hustenanfall aussitzen zu müssen.

Nicht wenige Gäste stürmen noch mit Fragen auf mich ein. Das ist entspannt. Oder vielmehr entspannend. Mit so etwas kann ich umgehen. Der Reporter drängelt sich nach vorn und bombardiert mich mit seiner Neugier. Ich lächle ihn an und dann mit entschuldigender Miene auch die anderen, die jetzt mit ihren Fragen warten müssen.

„Dann bin ich ja bestens im Bilde. Fotos habe ich auch recht gute im Kasten“, lässt der Vertreter des lokalen Pressewesens verlauten, reicht mir die Hand und ist schneller verschwunden, als ich ihm antworten kann. Ich habe nicht einmal mitbekommen, dass er Aufnahmen gemacht hat.

Stille. Abgesehen von einem Grundrauschen in meinem Kopf, das ich von Ausnahmesituationen kenne, herrscht Stille. Ich habe es hinter mir. Das ist gut. Aber war es gut? Gut genug, um einen Nutzen für unser gemeinsames Projekt zu bringen? Ich weiß es nicht. Es wird sich morgen zeigen, spätestens übermorgen, wenn die Zeitung den Artikel bringt und ein Teil der Zuschauer das Urteil in den sozialen Netzwerken gefällt hat.

© Karin Schweiger 2023

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