Inspiriert von einer Literaturausschreibung mit dem Thema »Brot und Spiele« kam mir folgende kleine Geschichte in den Sinn – ich hoffe, die Leser*innen haben ebenso viel Spaß wie ich beim Schreiben …
Akkurat ordnete Katja die mundgerecht geschnittenen Brotstücke auf der Platte an, die jeweiligen Aufstriche farblich perfekt aufeinander abgestimmt. Hier noch schnell eines ausgetauscht, dort eines besser zu seinen Nachbarn ausgerichtet. Die verschiedenen Käsesorten, die er so mochte, in der Mitte drapiert. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen. Ein paar Weintrauben, Walnusshälften und Tomatenschnitze dienten nur der Dekoration. Er würde sie nicht anrühren, das wusste sie. Sie trat einen Schritt von der Anrichte zurück. Ja, so passte es. Das gewohnte strahlende Lächeln im Gesicht, drehte sie sich zu ihrem Mann um und überreichte ihm die Platte.
»Danke, mein Schatz! Wie immer eine Wucht.« Er drückte ihr einen Kuss auf die Wange, hatte aber der Platte keinerlei Augenmerk geschenkt. Wie immer. Ihr Blick folgte ihm bis ins Wohnzimmer. Die geöffnete Bierflasche stand bereits auf dem Tisch, der Fernseher lief schon. Ein paar Minuten noch, dann war Anpfiff. Deutschland gegen irgendwen. Er liebte Fußball. Manchmal fragte sie sich, wie seine Antwort ausfallen würde, wenn er sich zwischen ihr und dem Spiel entscheiden müsste. Obwohl, wollte sie das wirklich wissen?
Wo war er geblieben, der aufmerksame, galante und so belesene Mann, in den sie sich verliebt hatte? Seit die Kinder aus dem Haus waren, kroch immer öfter die Frage in ihr hoch, ob ihr Leben ohne ihn nicht besser wäre. Einfacher ganz sicher. Selbstbestimmter. Angenehmer? Die Frage biss sich fest in ihren Gedanken. Zählte ihr die Vorzüge auf. Vorteile, die nicht zerplatzende Hirngespinste waren, sondern real. Die sie täglich vor Augen hatte, denn ihre beste Freundin hatte sich Knall auf Fall von ihrem Mann scheiden lassen, kaum dass der jüngste Sohn den letzten Umzugskarton über die Türschwelle gezogen hatte.
Sie seufzte. Die Sache hatte einen Haken: Eine Scheidung kam nicht infrage. Im Gegensatz zu Corinna gab es für sie danach keinen Unterhalt mehr. Sie stünde so gut wie mittellos da. Und welcher Arbeitgeber nahm schon eine fast Fünfzigjährige, die sich in den vergangenen zwanzig Jahren um die Kinder und den Haushalt gekümmert hatte? Family Manager nannte man das heutzutage euphemistisch.
Torjubel aus dem Wohnzimmer riss sie aus ihren Grübeleien. Pflichtbewusst drehte sie sich zur Spüle um und begann mit dem Abwasch. Gläser, Brettchen, Besteck und Schüsseln wanderten durch ihre geschickten Hände. Schließlich lag nur noch das große Messer im Spülbecken, das sie immer besonders vorsichtig abwusch, weil es höllisch scharf war. »Dolch« hatte er es lachend genannt und gefragt, wofür man so ein riesiges, gefährliches Teil in der Küche brauche. »Für alles«, hatte sie geantwortet. Und tatsächlich ließ sich von der Semmel über Fleisch und Käse bis hin zur Zwiebel einfach alles besser und schneller mit diesem Messer zerkleinern.
Es lag gut in der Hand, sie hatte sich in den zwei Jahren, die es schon zu ihrem Hausstand gehörte, an das Gefühl und an ihr Werkzeug gewöhnt. Wusste, wo und wie sie es anfassen musste, um den passenden Druck ausüben zu können. Sie drehte es, ließ die Klinge im Licht aufblitzen. Ein schönes Teil, fand sie, auch wenn es keine Nobelmarke war. Ohne dass sie wusste wie und warum, hatten ihre Füße sich in Bewegung gesetzt. Nein, sie hatte das Messer nicht an seinen Platz gelegt. Es war, als habe sich eine Verbindung geschlossen. Ein viel zu lange offen dagelegener Kontakt zwischen ihren Gedanken und ihren Augen.
Ehe sie sich’s versah, stand sie in der Wohnzimmertüre. Hatte den vollen Blick auf den Fernseher. Der Kommentator schien sich gerade überschlagen zu wollen, ganz offensichtlich hatte das Gewusel aus Beinen, Stollenschuhen, blauen und weißen Trikots spannende Elemente. Und davor, mit dem Rücken zu ihr, saß ihr Mann, vornübergebeugt. Schlug sich immer wieder auf die Schenkel und stieß Laute aus, die mit deutscher Sprache nicht mal am Rande etwas zu tun hatten. Völlig vertieft in das, was auf der Mattscheibe vor sich ging.
Ein großer Schritt würde genügen. Nichts würde er mitbekommen, gar nichts. Und mit nicht einmal drei Schritten wäre sie wieder verschwunden. Als wäre nichts geschehen. Sie zögerte, wog das Messer noch einmal in der Hand. Würde er wirklich nichts mitbekommen? Und … War es das wert?
Ein kleiner Schritt auf Zehenspitzen. Hatte er etwas bemerkt?
»Herrgottsacklzement!« Ein wütender Hieb auf seinen Oberschenkel, dann warf er sich zurück in den Sessel. Katja blieb fast das Herz stehen. So würde das nichts werden. Aber schon lehnte er sich wieder nach vorn und murmelte beschwörende Formeln in seinen nicht vorhandenen Bart.
Einen langen Moment zögerte sie noch, wartete, bis ihr Herzschlag sich wieder etwas beruhigt hatte. Sollte sie? Oder …? Noch ein kleiner Schritt und noch einer. Sie stand jetzt direkt hinter seinem Sessel, rechts neben ihm auf dem kleinen Tischchen die halb leergegessene Schnittchenplatte.
»Ja! Ja, verdammt. Geht doch!« Er griff nach dem Bier. Katja wich ein wenig zurück und zur Seite. Hoffentlich sah er sie nicht, wenn er jetzt die Flasche ansetzte. Aber er trank nur einen kurzen Schluck, fuhr sich mit dem Ärmel über den Mund und stellte das Bier achtlos wieder ab.
Katja sammelte sich erneut, brachte das Messer in Position und machte den letzten kleinen Schritt schräg nach vorn …
Mit einem spitzen Schrei fuhr er herum und starrte sie an wie ein Gespenst. Es dauerte eine ganze Weile, bis sein Mundwerk wieder funktionierte. »Katja, bist du wahnsinnig? Mich so zu erschrecken! Mit diesem … diesem Dolch von einem Messer.«
»Ich wollte nur … Also, eigentlich wollte ich nur das Stückchen Cambozola.«
Mit ungläubigem Blick musterte er erst sie, dann das Messer in ihrer Hand. »Ich dachte, du machst eine Diät und isst gerade keinen Käse?«
© Karin Schweiger 2023