Eine kleine Fingerübung, autobiografisch inspiriert – und zu einer Zeit passiert, als es noch keine Handys gab …
Bäume, nichts als Bäume. Dicke, dünne, alte und Neulinge. Wie kann man da den Durchblick behalten und wissen, an welcher Stelle des Waldes man sich gerade befindet? Der Blick auf die Uhr sagt mir, dass ich in einer Viertelstunde wieder im Gestüt sein sollte. Ich habe das wertvollste Pferd des Bestandes am Zügel – den hochdekorierten Hengst, der die Kasse mit Deckeinnahmen kräftig klingeln lässt. Und keine Ahnung, ob ich zehn Minuten oder zwei Stunden weg bin von der großen Stallanlage.
Panik befällt mich.
Da, dieses komische Vogelhäuschen habe ich vorhin schon gesehen. Ganz sicher. Oder? Nein, das sah anders aus. Außerdem gibt es davon vermutlich zig in diesem Wald. Warum nur treffe ich heute keine Spaziergänger? Blöde Frage! Es ist mitten am Tag, neblig und unangenehm feucht-kalt.
Was soll ich nur tun, welchen der beiden Wege vor mir nehmen? Der Hengst möchte von dem spärlichen Grasbewuchs in der Mitte des Weges kosten.
»Mensch, Dicker!« Ich knuffe ihn liebevoll an die Schulter. »Weißt du nicht, wo es heimgeht?«
Er antwortet mit einem leisen Brummeln, macht aber keinerlei Anstalten, in eine Richtung zu drängeln. Pferden oder Tieren allgemein sagt man doch nach, dass sie den Weg nach Hause immer kennen. Ich trete einen Schritt von Kassios Schulter zurück und lege ihm die Longe locker über den Rücken. Nur ja keinen Einfluss nehmen auf seine Entscheidung!
Verdutzt dreht er den Kopf zu mir. »Los, Dicker! Lauf heim«, flüstere ich. Es dauert noch ein paar Augenblicke, dann wird es dem Hengst ganz offenbar zu dumm. Unternehmungslustig wirft er den Kopf nach oben und stapft los. Ohne zu zögern in den linken Weg und munter vorwärts. Wenige Minuten später macht der Waldweg einen Bogen, wir treten aus dem Wald hinaus – und befinden uns am oberen Ende der Haugk-Allee.
Der Felsbrocken, der mir vom Herzen fällt, dürfte die Größe eines Gebirges haben und poltert vor uns den langen, abschüssigen Weg hinunter Richtung Gestüt.
»Was, so früh?« Der Gestütsmeister blickt verwundert auf seine Armbanduhr. »Ich hätte euch frühestens in einer Stunde erwartet.«
Perplex sehe ich ihn an. »Aber …«
Er lacht schallend auf. »Wie lange kenne ich dich schon? Hast du je problemlos wieder nach Hause gefunden?«
© Karin Schweiger 2023
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