Bürgermeisterstück

Dieses dumme Grundwasserproblem! Und dann ist das Dorf-Faktotum tot. Aber was hat der geplante Reiterhof damit zu tun?

Das gute Porzellan in der Eckvitrine klirrte vorwurfsvoll, als die fünf Männer sich auf die Eckbank fallen ließen. Die in die Jahre gekommene Wohnküche musste mal wieder für eine Gemeinderatssitzung des bayerischen Dörfchens Sixtnitgern herhalten. Dabei fungierte Traudl als Gastwirtin, Gemeindesekretärin und Protokollführerin. Was tat man nicht alles, wenn der Ehemann Bürgermeister war?

„Erwin sein Sohn geht nach Dachau. Automechaniker will er werden, der feine Bursche.“ Kurt brach das dumpfe Schweigen über den Bierkrügen. Der Biogaserer, dachte Traudl, in der Schule gemobbt und im Leben gestraft mit drei Töchtern.

„Daubners Jüngster will studieren. Drei Söhne, und alle gehen weg.“ Rupert, stets müffelnder Mittfünfziger mit einem heruntergekommenen Hof, schnaufte so tief, als läge die gesamte Last des Dorfes auf seinen gebeutelten Schultern.

„Was soll bloß aus den Höfen werden? Bürgermeister in einem Dorf voller Ruinen, na, danke auch.“

„Unsinn! Dann werden die anderen Betriebe eben größer“, fuhr Nepomuk unwirsch dazwischen. Was der Rinderbaron sich wohl von dieser Sitzung außer der Reihe für ein Geschäft versprach? „Viel schlimmer als die, die gehen, sind doch die, die herkommen. Dieses Städterpack mit seinen romantischen Vorstellungen vom Landleben. Zum Kotzen sind die!“ Er keuchte nach diesem Ausbruch und wischte sich mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn und den geröteten Wangen.

„Das stimmt!“, pflichtete Kurt bei. „Dieses Olchinger Rentnerpaar, das neuerdings bei uns nebenan wohnt, verlangt doch tatsächlich, dass ich meine Hühner bis neun Uhr eingesperrt lasse! Und einen Antrag haben sie gestellt, dass die Kirchturmuhr nachts nicht mehr schlägt. Die sind doch nicht ganz bei Trost!“

„Harmlos!“, warf Rupert ein, „das ist ja harmlos! Die mit dem bonzigen Toskanahaus neben mir sind viel schlimmer! Die haben mir letztens alte T-Shirts in den Auslass vom Gülletank gestopft. Ich dürfte Dünger nicht mit dem alten Ding ausfahren. Wisst ihr, was das gedauert hat, bis ich dahintergekommen bin? Ich hätte sie erwürgen können!“

„Na, na, na! Immer mit der Ruhe! Meinungsverschiedenheiten trägt man gesittet aus, Rupert!“ Da war er wieder, Sepp, der weise alte Mann, der seine Schäfchen zur Besonnenheit mahnte. Ja, Traudl wusste, warum sie ihm die Verantwortung übertrugen.

„Nie würd’ ich meinen Hof an Städter verkaufen! Als wenn wir noch nicht genug von denen hier rumstänkern hätten“, murrte Kurt. Traudl grinste, hatte es doch erst kürzlich Beschwerden gegeben, weil die Straße zur Biogasanlage bei dem Wetter aussah wie ein Acker.

„Wirst schon müssen, wenn’s soweit ist. Altenheim gibt’s nicht geschenkt“, sagte Sepp.

Rupert lachte meckernd. „Komm, tu nicht so, Bürgermeister! Als wenn du nicht selbst schon Ärger mit deinen neuen Nachbarn hättst!“

Da hatte er leider Recht, dachte Traudl noch, als ihr Mann auch schon lospolterte: „Was Besseres ist dem nicht eingefallen, als an Preiß’n zu verkaufen. PETA-Spinner aus der Vulkaneifel!“ ‚Fulkaneifel‘ sagte er und es klang auch so, als speie er dabei Feuer.

Vier aufgerissene Augenpaare betrachteten den Bürgermeister. So einen Wutausbruch hatte wohl noch keiner von ihnen bei dem sonst so besonnenen Mann erlebt.

„Sepp, lass uns anfangen, wir sind doch nicht hier, um über unseren missratenen Nachwuchs oder unsere noch missrateneren Nachbarn zu reden. Was gibt’s?“ Der Rinderbaron nahm mal wieder das Heft in die Hand, er sah sich ja ohnehin als Bürgermeister ohne Amt.

Mit einem kurzen Kopfnicken wurde dem Florian bedeutet, sein Anliegen vorzutragen, das bei der letzten Sitzung zeitlich nicht mehr reingepasst hatte und jetzt wegen Antragsfristen eilte. Er wollte als zweites Standbein einen Reiterhof aufbauen.

Traudl betrachtete den schneidigen jungen Kerl, der erst vor ein paar Jahren aus einem Nachbardorf gekommen war und ein leerstehendes Anwesen zum Biogemüsehof ausgebaut hatte. Auf den Wochenmärkten wurden ihm seine Waren aus der Hand gerissen und die Erlebnistage für Kinder waren auf Wochen hinaus ausgebucht. Die Alteingesessenen beäugten ihn noch immer mit gehörigem Argwohn, aber es kümmerte ihn nicht.

„Ja, hat dir wer ins Hirn geschissen?“, brüllte der Rinderbaron, obgleich Florian noch nicht einmal geendet hatte, und verteilte dabei einen Sprühregen von Speicheltröpfchen. „Ausgerechnet Reiter willst herziehen? Damit die Feldwege kaputt sind, wir nicht mehr hinter den Baumschäden herkommen und das Wild ständig aufgescheucht wird? Nur über meine Leiche!“

„Diese Tussis können doch einen Wiesenweg nicht vom Acker unterscheiden. Und dann will’s keiner gewesen sein. Nee, da mach ich nicht mit.“ Auch Kurt konnte sich nicht mit diesem Gedanken anfreunden.

„Sind dir die anderen Spinner noch nicht genug? Zu hundertzwanzig Prozent sind das militante Tierschützer. Auf gar keinen Fall!“ Rupert schlug mit voller Wucht in die vorgetiefte Kerbe.

Täuschte Traudl sich oder atmete ihr Mann gerade auf? „Du hörst es, Flori. Das wird nix. Dafür sind auch unsere Dorfstraßen nicht ausgelegt. Weißt, die Leut’ müssen ja alle mit dem Auto her. Und …“

„Lass gut sein. Hätt’ ich mir ja denken können. Müsst euch nicht wundern, wenn niemand Vernünftiges die Höfe im Dorf übernehmen will. Sepp, danke für die Anberaumung der Sitzung; Traudl, danke für die Gastfreundschaft und das Weizen. Pfüa God allerseits.“

Die folgende Stille wurde erneut vom Rinderbaron gebrochen. „Was ist jetzt eigentlich mit dem Grundwasserproblem in Sittenbach? Weiß man da schon mehr? Trifft uns das auch?“

„Ja, müssen wir jetzt auch Proben ziehen? Oder womöglich das Wasser aus Augsburg holen?“ Rupert stand die Angst vor höheren Kosten ins Gesicht geschrieben.

„Ich versteh das nicht. Hat sich doch nichts geändert, wir düngen und spritzen nicht mehr oder anders als früher – und wir hatten immer das sauberste Wasser im Landkreis.“ Auch Kurt konnte sich keinen Reim auf die massiven Probleme des Nachbardorfes machen.

Schweigen. Das Quietschen der Türklinke, die sich langsam nach unten bewegte, war dafür umso lauter. Dann wurde die Tür abrupt aufgestoßen. Käsebleich taumelte der Nachbarsjunge herein.

„Der Stichora“, stammelte er. „Der ist … tot.“

Der Stichora. Traudl spürte die Gänsehaut. Das Dorf-Faktotum. Ein schmieriger Typ, der ihr immer Angst machte. Verdiente sein Geld mit „Vermittlungsgeschäften“. Keiner mochte ihn, aber jeder war irgendwie auf ihn angewiesen. Und der war tot?

„Und die Polizei … Der ist umbracht wor’n“, platzte aus dem Jungen heraus.

Stille lag über dem Raum, das Ticken der alten Wanduhr vermischte sich mit dem Atmen von sechs Menschen zu einem hauchdünnen Klangteppich, ansonsten hätte man meinen können, nicht nur der Stichora sei tot.

„Ja, wer hat mit dem kein Hühnchen zu rupfen gehabt?“, knurrte der Rinderbaron und gab damit den Startschuss für wild durcheinandergeworfene Vermutungen, Verdächtigungen, Anschuldigungen und Rückschlüsse.

„Von uns hier aus dem Dorf war’s jedenfalls keiner“, behauptete Kurt im Brustton der Überzeugung. Glaubte Traudl auch nicht, immerhin lebten sie seit Jahren friedlich mit ihrem Faktotum.

„Lasst die Polizei ihre Arbeit machen“, mahnte der Bürgermeister, „und wir unsere: Wollen …“

„Das müssen deine Nachbarn gewesen sein, Sepp, die Preiß’n. Hast nicht selbst gesagt, sie hätten den Stichora letztens einen hinterlistigen Halsabschneider genannt?“ War klar, dass Kurt nicht auf den Themenwechsel eingehen wollte.

„Jetzt wo du’s sagst. War doch so, Bürgermeister?“ Traudl beobachtete ihren Mann. Natürlich war es so, das hatte er ihr ja brühwarm erzählt.

„Sicher, sicher, die haben ihm noch ganz andere Dinge an den Kopf geworfen.“ Nachdenklich strich er sich übers Kinn. „Wenn ich’s so recht überlege: Denen trau ich’s zu.“

Nicken rundum.

„Eigentlich müsste man die eigenhändig an den Pranger stellen, teeren, federn und vierteilen.“ Rupert hatte eindeutig zu viele Henkersfilme gesehen.

Kurt wiegte den Kopf. „Muss ich dir Recht geben. Was kriegen die denn heute mit einem guten Anwalt? Ein paar Jährchen, von denen sie bloß die Hälfte absitzen.“

Die reinste Lynchjustiz, dachte Traudl. Nein, auch sie konnte ihre neuen Nachbarn nicht ausstehen. Aber die Polizei würde das schon aufklären – wie immer.

Das Läuten von Nepomuks Handy zerriss die Stille. Er zwängte sich murmelnd aus der Bank und steuerte die Tür an. „Geschäfte, Geschäfte.“ Eine kurz gehobene Hand war der ganze Abschied.

Dumpfe Stille zog sich schier unendlich in die Länge.

Rrrrums.

Die Küchentür zitterte nach dem Schlag gegen die Wand. Traudl fuhr herum, Luft für eine Rüge holend. Doch da stand der Florian, so bleich wie zuvor der Nachbarsjunge. Ganz langsam hob er die Hand. Zwischen den spitzen Fingern baumelte etwas. Traudl erkannte es sofort. Trotz des ganzen Drecks und der Blutflecken. Die aufwändig gearbeiteten Verzierungen am Griff, das geprägte JB.

„Das hab ich am Misthaufen gefunden, als ich den kurzen Weg durch deinen Hof rüber zu mir genommen hab. Hast du was mit dem … Mord zu tun?“

Sepp schnappte nach Luft wie ein Karpfen auf dem Trockenen.

„Du Depp!“, schimpfte Kurt. „Des is a Jagdmesser. Des Blut ist von am Viech.“

Jetzt hatte auch Sepp seine Stimme wiedergefunden, auch wenn sie rau und kratzig klang. „Muss mir in den Abfall gerutscht sein, hab’s schon gesucht.“

„A Viech? In der Schonzeit?“, fragte Florian.

Totenstille legte sich wie eine frische Schneedecke über den Raum. Vier aufgerissene Augenpaare glotzten auf den Sepp. Traudl kam mit dem Schlucken nicht hinterher. Nein! Das konnte, das durfte nicht sein! Er war nicht auf der Jagd und sie wusste auch von keinem verletzten Tier im Revier. Sie sah, wie Sepps Adamsapfel hüpfte, wie seine Stirn vor Schweiß zu glänzen begann.

„Ist doch immer gutgegangen“, flüsterte er. „Das mit der überschüssigen Gülle in den Bach. Seit wann ziehen die Proben? Und der Stichora … Er wusste es, irgendwer muss mich gesehen haben.“ Schweißperlen liefen ihm ins Auge. Er blinzelte nicht einmal. „Hätt’ den Hof gekostet. Wie wär ich dagestanden? Als Bürgermeister.“ Kraftlos rutschte seine Hand vom Tisch und landete auf seinem Oberschenkel. „Der Stichora … stand einfach da. Hat die Hand aufgehalten. Unter zehn Riesen bräucht’ ich nicht anfangen mit dem Handeln. Und dann … lag da das Messer. War plötzlich in meiner Hand. Und dann war’s drin. In seinem gierigen Hals …“

Entsetztes Schweigen. Traudl war, als hätte die Welt aufgehört sich zu drehen. Ihre Gedanken fuhren Achterbahn und doch konnte sie keinen einzigen greifen.

„Ich muss das jetzt zur Polizei bringen.“

„Nein!“ Der Aufschrei aus drei Männerkehlen klang wie ein schlecht abgestimmter Chor.

„Tu das nicht! Du machst das ganze Dorf kaputt. Das ist es nicht wert.“

Traudl hätte Kurt am liebsten umarmt. Aber der Flori … Was hatte der schon zu verlieren?

„Pass auf, Flori. Du gibst das Messer jetzt seinem rechtmäßigen Besitzer zurück und vergisst das Ganze. Und wir … könnten uns dann schon einen Reiterhof in unserem Dorf vorstellen. Weißt, der Erwin ist leicht überredet für eine 4:3-Mehrheit.“

Rupert und Sepp nickten wortlos zu Kurts Vorschlag.

© Karin Schweiger 2022

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