Der Hunger nach Sensationen

Ein wahres Ereignis, das erst vor Kurzem durch die Presse ging, hat mich inspiriert, einen fiktiven Blick hinter die Kulissen zu werfen

»Leute, strengt eure Hirnmasse an! Wir brauchen einen echten Erdrutsch, sonst …«

»Wäre es nicht deine Aufgabe als Chefredakteurin, zündende Ideen zu haben? Wir …«

»Hört auf, euch zu streiten. Wir sitzen alle im selben Boot – und das ist derzeit zweifelsfrei am Sinken.«

»Was hat der Boss denn jetzt genau gesagt?«, wollte Nora wissen.

Claudia zuckte mit den Achseln. »Wir haben bis Monatsende Zeit, also genau noch eine Ausgabe. Wenn die verkaufte Auflage dann nicht wieder Vor-Corona-Niveau hat, wird das Blatt eingestampft. Und mit ihm die komplette Redaktion. Keine Verwendung bei anderen Projekten.«

Dumpfe Stille senkte sich über den kleinen Besprechungsraum, bis Jochen mit etwas zu viel Elan aufsprang. »Hier kommt wohl kein Durchbruch mehr, dann geh ich mal wieder an den Rechner.«

»Was hast du gerade in Arbeit?«

»Klimakleber.«

Claudias Schultern sackten nach vorn. »Ausgelutscht und taugt nicht die Bohne für einen Reißer«, murmelte sie mehr zu sich selbst.

»Such du halt nach deinem Reißer, ich sehe derweil zu, dass auch auf den anderen Seiten noch was steht – oder willst du die beiden gecancelten Anzeigenseiten leer abgeben?«, schnappte er ein bisschen zu laut.

»Sorry, du hast ja Recht.«

Claudia und Nora blieben noch eine ganze Weile sitzen. Schweigend, jede in die eigenen Gedanken versunken.

»Es muss doch irgendwas geben! Wenigstens ein Sensatiönchen, das man aufplustern kann. Etwas, wonach die Leute gieren. Und wo wir mal als erste dran sind. Was weiß denn ich – gibt es noch keinen Durchbruch bei Krebsimpfungen? Trennt sich nicht jemand völlig unerwartet?«

Nora gähnte demonstrativ. »Du willst nicht im Ernst auf die Schiene Florian Silbereisen – der Sunnyboy von einst ist heute todunglücklich. Und SIE ist schuld daran? Dann kündige ich gleich.«

»Oder jemand, der zehn Jahre von der Bildfläche verschwunden war, taucht wieder auf. Oder …«

Ein »Tschakka!« löste Noras tiefen Seufzer ab. Sie warf ihre Hände in die Luft und klimperte schwärmerisch mit den Augen. »Wo du gerade zehn Jahre untergetaucht sagst: Ein Exklusivinterview mit Michael Schumacher.«

»Ja, genau – sowas wär’s!« Claudias Grinsen geriet ziemlich schief. »Geht wohl eher ein Elefant durch ein Nadelöhr, als dass den nochmal jemand vor ein Mikro bekommt.« Sie entknotete ihre übereinandergeschlagenen Beine und stand auf. »Aber versuchen kannst du es ja mal.«

Nora schüttelte den Kopf. »KI«, sagte sie und lehnte sich in ihrem Stuhl nach vorn, um ihr Gegenüber besser fixieren zu können.

»Abgelutscht.« Claudia winkte resigniert ab.

»Nee. Die KI oder eben dieser Chat-Dingsbumsda sammelt doch Millionen Fakten und analysiert Tausende Zitate. Wenn man dem die Fragen stellt …«

Claudia brauchte ziemlich lange, um den angedachten Gedanken fertigzuspinnen, und ließ sich wieder zurück auf ihren Stuhl fallen. »… müssten die Antworten wie echt von Michael Schumacher klingen.«

Nora sah sie herausfordernd an. Claudias Gedanken fuhren Achterbahn. So verlockend! Und doch … »Nein, das können wir nicht bringen. Das ist doch Betrug.«

»Pfft«, machte Nora. »Zeig mir das Boulevardblatt, das seine Leserschaft nicht von vorn bis hinten bescheißt. Fängt doch schon beim Titelblatt an. Ich möchte gar nicht nachzählen, wie oft Kate schon mit dem vierten Baby schwanger war, Harry in Scheidung gesteckt hat und Helene Fischer … keine Ahnung. Und? Was ist, wenn du aufschlägst? Ach, was wäre die Welt erfreut, wenn Kate doch noch mal schwanger würde, bla bla, bla.«

So gesehen hatte die junge Kollegin natürlich recht, schoss es Claudia durch den Kopf. Es war tatsächlich egal, ob das, was reißerisch auf dem Titel angekündigt war, stimmte oder nicht – Hauptsache, das Heft wurde gekauft. Warum sollte ihr Blatt als einziges brav bei der Wahrheit bleiben? Noch dazu in einer Ausnahmesituation wie dieser? Weil du immer den Anspruch hattest, nicht auf dieses Niveau abzusinken. Willst du im Ernst deine Journalistenehre opfern, um …?

»Schumacher ist heikel – die hetzt einem doch gleich ein ganzes Bataillon Anwälte auf den Hals, wenn man ein falsches Wort über den heiligen Michael schreibt.«

Nora schwieg, schaute sie aber immer noch herausfordernd an.

Bin nicht ich verantwortlich für meine Redakteurinnen und Redakteure? Kann ich deren Jobs aufs Spiel setzen, nur weil ich hohe Ansprüche habe? Ist die Qualität dann nicht zu teuer erkauft?

»Da müssen wir uns rechtlich aber gut absichern, sonst geht das mächtig nach hinten los.«

Ein breites Grinsen zog sich über Noras Gesicht.

Mit einem stummen Nicken entließ Claudia ihre eifrige junge Kollegin, schickte ihr aber noch ein »Ich überlege es mir, hörst du?« nach. Dennoch war sie sich sicher, dass Nora sich sofort an den Reißer der nächsten Ausgabe setzen würde.

Claudia war neugierig genug, ihr dabei ein wenig über die Schulter zu schauen. Musste die Arbeit eben noch etwas warten, die konnte sie auch nach Feierabend noch erledigen, wenn hier im Haus Ruhe herrschte. Fasziniert beobachtete sie den Text des Interviews beim Wachsen.

Die Fragen, die die ganze Welt brennend interessierten. Die Antworten – im Tonfall, in der Art aufs i-Tüpfelchen das, was sie vor nunmehr zwölf Jahren selbst bei einem Live-Interview mit dem Erfolgs-Rennfahrer erlebt hatte. Sie sah förmlich sein charmantes Schmunzeln vor sich, das geschickte Ausweichen, wenn es um allzu Privates ging, hörte förmlich das ansteckend erfrischende Lachen. Inhaltlich, mokierte sich die Journalistin in ihr, sehr flach, Allgemeinplätze. Aber brillant und völlig originalgetreu formuliert.

Vor Claudias Augen fügte Nora am Ende des Interviews eine Fußnote an: Sieht aus wie von Michael Schumacher, klingt nach Michael Schumacher – ist aber leider nicht Michael Schumacher. Die ganze Welt möchte wissen, wie es dem Sympathieträger geht. Leider wird er von seinem Management und seiner Familie so stark abgeschirmt, dass niemand etwas erfährt. Statt seiner mussten wir mit einer Künstlichen Intelligenz sprechen.

Sie öffnete einen Ordner und gab Claudia den Blick frei auf eine Reihe von infrage kommenden Bildern, deren Abdruckrechte verfügbar waren. Triumphierend schaute sie ihre Chefin an.

Claudia schloss die Augen. Konnte das gutgehen? Wenn ja, war es der Durchbruch. Wenn nein … war es das Ende. Aber ohne einen solchen, diesen Reißer wäre es auch zu Ende. Was hatte sie zu verlieren? Einen Rechtsstreit, zischte die Stimme der Vernunft ihr zu.

Dass die Familie Schumacher klagen würde, war so sicher wie das Amen in der Kirche. Würde, könnte der Verlag sie regresspflichtig machen? Moment – konnte man darauf Klage erheben? Es stand doch klipp und klar, schwarz auf weiß da, dass das Interview eben nicht mit Michael Schumacher geführt wurde. Reichte der Anschein? Eigentlich sollte sie das erst mit der Rechtsabteilung klären. Aber …

»Nimm da auch noch eine entsprechende Notiz auf den Titel, bitte.«

»Auf den Titel? Echt jetzt? Das macht doch alles kaputt!« Nora zog eine Schnute.

»Ja, schon um rechtlich auf der sicheren Seite zu sein. Kleb dein ›Sensation‹ ruhig oben drüber, aber unten noch eine kleine Zeile ›klingt täuschend echt‹ oder so.«

Nora schmunzelte schon wieder. »Das Kleingedruckte? Das jeder lesen sollte, der sich nicht über den Tisch ziehen lassen will?«

Schlagfertiges Stück! Die würde ihren Weg schon machen, die käme sicher problemlos in einer anderen Redaktion unter. Also musst du gar nicht raus auf das Seil. Lass es! Nicht so etwas Riskantes absegnen, meldete sich eine eindringliche Stimme in ihrem Kopf. Wirklich nicht? Sie glaubte es, aber wissen tat man es immer erst dann, wenn es so weit war.

Und Jochen? Zwar ein guter Journalist und Redakteur, aber zu langsam – dafür viel zu schnell eingeschnappt und dann auch gern mal deutlich zu schnippisch. Sie hingen beide an dieser Redaktion, an diesem Blatt. Ist das dein Problem?, fragte die Stimme. Natürlich nicht, war die erste Antwort, die Claudia in den Sinn kam. Aber … So ein bisschen war es ja doch ihr Problem. Trug sie als Chefredakteurin nicht Verantwortung für ihre Leute?

»Jochen, kannst du nicht einen von diesen Klimaklebern direkt in den Fokus nehmen? Vielleicht eine von den beiden, die am Zopf von der Straße gezogen wurden?«

Jochen verfrachtete umständlich die Reste seiner abgebissenen Stulle in die linke Backe, bevor er den Kopf schüttelte. »Abgeschirmt vom Bündnis. Außerdem taufrisch heute Morgen bei den Kollegen in der Ausgabe.«

Schon wieder zu spät! Ihr lag ein Vorwurf auf der Zunge, aber sie schluckte ihn. Jochen beäugte sie misstrauisch, würgte dann seinen Bissen hinunter. Grübelnd betrachtete er den Rest seiner Stulle in der Hand, dann sah er auf. »Also, das mit dem Schumi, das würd’ ich nicht machen.«

Das war wieder so typisch Jochen. Im eigenen Revier alle Chancen verpennen, aber andere Vorschläge in Bausch und Bogen ablehnen. »Fällt dir was Besseres ein, um Auflage zu machen?«

»Nein, aber das mit Schumi würd’ ich trotzdem nicht machen.«

»Dir ist schon klar, dass es Spitz auf Knopf steht? Dass es um das Blatt geht, um deinen Job, um Noras Job und um meinen?«

»Hm«, machte er, schien kurz zu überlegen und stopfte sich dann den Rest der Stulle in den Mund. »Ich geh mal wieder an die Arbeit«, nuschelte er.

»Miesepeter«, murrte Nora. »Selbst nix gebacken kriegen, aber wenn Frauen ’ne Idee haben, ist die immer scheiße.« Mit deutlich zu viel Schmackes setzte sie ihre Kaffeetasse auf dem Tisch ab und schob noch ein verächtliches »Männer« nach.

Claudia schloss die Augen. Hopp oder Top? In einer Viertelstunde stand das Telefonat mit der Produktion an. Dann musste die Entscheidung stehen. Wenn Jochen jetzt auch nicht dahinterstand? Sollte das ihre Entscheidung beeinflussen? Aber sehenden Auges ins Verderben rennen, war nun weder ihr noch Noras Ding. Entweder der sichere Untergang oder der Strohhalm, der sich da bot. Mehr Auswahl gab es nicht.

Als Claudia die Augen wieder öffnete, war ihre Entscheidung gefallen. Eine Entscheidung, die sie um den Schlaf der folgenden Nächte brachte.

Drei Tage, in denen ihr und Noras Zeitgefühl so weit weg von normal war wie der Pluto von der Erde – allerdings in unterschiedlichen Richtungen. Während Nora dem Moment entgegenhibbelte, in dem die gedruckten Ausgaben in den Läden lagen, wäre es Claudia lieber gewesen, diesen Punkt noch in weiter Ferne zu wissen. In sehr weiter Ferne. Sie war kaum in der Lage, die nächste Ausgabe vernünftig vorzubereiten und ihren Büroalltag abzuspulen, weil sich das Karussell in ihrem Kopf immer schneller drehte.

Auf dem Polizeiauto sauste Verlagsleiter Engelhardt an ihr vorbei und schrie: »Sind Sie wahnsinnig geworden?« Aus dem winzigen Fenster der rasenden Imbissbude schaute Jochen heraus: »Hab ich dir nicht gesagt, du sollst das nicht machen?« Auf dem rosa Einhorn saß Nora und jauchzte: »Wir haben es geschafft! Die Auflagenzahlen schießen durch die Decke!« Auf der Leiter des Feuerwehrautos kauerte die Volontärin und dankte ihr unter Tränen, dass sie ihren Ausbildungsschritt hier zu Ende führen durfte. Und dann war da noch der dicke blaue Elefant, der bei jeder Runde seinen Rüssel in ihre Richtung schwenkte und ihr zuflüsterte: »Der eine Ausrutscher zählt doch nicht. Du bist immer noch eine seriöse Journalistin!«

Claudias Knie hätten nicht wackliger sein können, als sie am Tag X in ihr Büro schlich – und sofort von der Chefsekretärin ins Besprechungszimmer geschickt wurde.

Verlagsleiter Engelhardt stampfte durch den Raum wie Rumpelstilzchen, krebsrot vor Wut im Gesicht und mit Mühe nach Luft japsend. »Selbstverständlich haben wir sofort eine Mitteilung herausgegeben und uns von Ihrer Arbeitsweise distanziert. Was ist nur in Sie gefahren? Ich kenne Sie doch sonst als Journalistin mit Augenmerk auf Qualität. Und dann so etwas? Was um alles in der Welt haben Sie sich dabei gedacht??«

Einiges, aber das werde ich dir hier und jetzt garantiert nicht auf die Nase binden. Und was in mich gefahren ist? Deine Forderung nach Auflagenzahlen. Die, und das war Claudias bitterste Erkenntnis, nur mit Sensationen zu erreichen sind.

»Hat Ihnen Ihre eigene Unverfrorenheit die Sprache verschlagen?« Engelhardt baute sich direkt vor ihr auf und beugte sich näher zu ihr herunter. Sie konnte seinen hektischen Atem spüren – und riechen. Die unmittelbare Nähe war ihr unangenehm und sie versuchte zurückzuweichen, soweit es in dem Stuhl, in den er sie komplimentiert hatte, möglich war.

Es dauerte, das wusste Claudia. Aber wenn einmal eine Linie überschritten war, dann stieg tief aus ihrem Inneren eine Wut und eine Kraft auf, die ihresgleichen suchte. Langsam erhob sie sich von ihrem Stuhl und schob Engelhardt, der gar nicht daran dachte, die unangenehme Nähe aufzugeben, einfach mit der flachen Hand von sich weg. Zwei Schritte zur Seite stellten die angemessene soziale Distanz zwischen ihnen beiden wieder her.

»Waren es nicht Sie selbst, der vor gerade einmal einer Woche mir gegenüber eindeutig Auflagenzahlen vor Qualität gestellt hat?«

»Das ist doch unglaublich! Sie impertinentes Weibsbild! Wollen Sie jetzt allen Ernstes mir die Schuld für Ihre völlige Entgleisung und Verfehlung in die Schuhe schieben?« Claudia bekam es mittlerweile ernsthaft mit der Angst um den Blutdruck des Mannes vor ihr zu tun.

Sie lächelte ihn kalt an. »Tun Sie, was Sie nicht lassen können oder wollen. Statuieren Sie Ihr Exempel an mir und opfern Sie den Bauern, um gut dastehen zu können.«

Erneut unterschritt Engelhardt eindeutig die angemessene körperliche Distanz, starrte ihr wütend in die Augen. »Sie sind gefeuert. Fristlos. Gehen Sie, sofort – und wagen Sie es ja nie wieder, mir unter die Augen zu treten!«, zischte er und traf Claudia dabei mit einigen Speicheltröpfchen.

Angeekelt wischte sie sich über die Wange, drehte auf dem Absatz um und verließ ohne ein weiteres Wort erhobenen Hauptes den Besprechungsraum.

Kaum hatte sie die Tür hinter sich zugezogen, sackte sie in sich zusammen. Was für eine Schnapsidee! Warum hatte sie nicht beizeiten die Notbremse gezogen? Die ganzen Folgen hätten ihr doch klar sein müssen … Oder – hätte sie gerade eben besser anders agieren sollen? Reumütig? Ihre Überlegungen schildern? Hätte sie damit ihren Job retten können? Bergmanns heulen nicht rum! Die Stimme der Vernunft hatte diesmal verdammte Ähnlichkeit mit der Stimme ihrer Mutter.

Mit unsicheren Schritten tappte sie in ihr Büro hinüber. Sie musste ihre persönlichen Dinge vom Rechner löschen, musste ihre Sachen zusammenpacken, sich von Nora und Jochen verabschieden. Wenigstens von den beiden, dachte sie, wohl ahnend, dass Engelhardt in Kürze persönlich nachsehen würde, ob sie seinem Befehl Folge geleistet hatte.

»Claudia! Claudia! Ach, hier bist du …« Nora kam, nein, hüpfte um die Ecke und wedelte mit einem Blatt Papier in der Hand. »Hier, gerade druckfrisch von den Marketing-Leuten. Wir sind gerettet!!!« Übers ganze Gesicht strahlend, drückte sie Claudia den Schrieb in die Hand. Jochen lugte neugierig um die Ecke, um die Ursache des Freudengeheuls auszumachen.

Ganz langsam ließ Claudia das Blatt mit der internen Mitteilung auf den Tisch sinken. Die Auflagenzahlen stimmten, das Blatt würde weiterbestehen. Nora und Jochen würden ihre Jobs behalten.

Wenigstens ein Gutes hat die Sache also gehabt.

© Karin Schweiger 2023

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