Die Freiheit, die ich meine

Inspiriert von einer Veranstaltung zum 3. Oktober – verwirrenderweise auf der Leipziger Buchmesse – kamen mir so einige Gedanken zum Thema Meinungsfreiheit. Wie ist es denn eigentlich bei uns, in einem Land mit grundgesetzlich festgeschriebenem Recht, um eben diese Meinungsfreiheit bestellt – im Großen und im Kleinen?

Im Gegensatz zu vielen Millionen Menschen in anderen Ländern dieser Erde genießen wir hierzulande Meinungsfreiheit, genauer: Meinungsäußerungsfreiheit. Niemand wird rechtlich dafür belangt, das heißt ins Gefängnis gesteckt oder gar gefoltert, wenn er / sie / sier die eigene Meinung öffentlich kundtut. Das sollten wir zu schätzen wissen.

Paragraf 5, Absatz 1 unseres Grundgesetzes lautet: Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten.

Natürlich hat auch freie Meinungsäußerung ihre Grenzen, und zwar da, wo Rechte und Gefühle anderer verletzt werden. Und das gilt schon im Kleinen. »Schatz, bin ich zu dick?« Den Fehler, hier die ehrliche Meinung laut zu sagen, macht jede/r Angesprochene nur einmal. Die gesetzlich fixierten Grenzen freier Meinungsäußerung umfassen Beleidigung oder Verleumdung, Volksverhetzung, die Weitergabe geheimer Informationen oder solcher, die die öffentliche Sicherheit gefährden, Äußerungen, die mit der Sittlichkeit und dem Jugendschutz in Konflikt stehen, und die Weitergabe urheberrechtlich geschützten Materials.

Vor allem im internationalen Vergleich gilt die deutsche Rechtsprechung in Sachen Meinungsfreiheit als sehr großzügig. Rechtlich auf der sicheren Seite sind wir also hierzulande, wie weit auch immer unsere öffentlich geäußerte Meinung von der Mehrheitsmeinung oder der »political correctness« abweichen mag.

Aber ist das genug?

Was ist mit den beruflichen Nachteilen? Ist Kritik an einem Unternehmen oder dessen Management Grund genug für eine Kündigung? Oder gar dafür, in der Branche auf die schwarze Liste zu kommen und nirgends mehr eine Anstellung zu finden? Oder als Selbstständige/r keine Aufträge mehr zu bekommen? Was sagt das Arbeitsrecht dazu? Zählt die alte Ellbogenregel ›die Hand, die mich füttert, die beiß ich nicht‹ mehr als das Grundgesetz der Meinungsfreiheit?

Ist das die Freiheit, die ich meine?

Was ist mit Shitstorms im Netz, die über Andersdenkende hereinbrechen? Nehmen wir ein aktuelles Beispiel, und zwar durchaus eines »mit Zündstoff«: Joanne K. Rowling – man mag zu ihr und ihren Büchern stehen, wie man möchte – hat sich gegen die Gleichstellung von Transfrauen ausgesprochen. Ob man nun ihre Meinung teilt oder nicht, es ist Rowlings gutes Recht, dieser Meinung zu sein. Und es ist ihr Recht, diese Meinung öffentlich kundzutun, egal wie viele Menschen anderer Meinung sind. Immerhin sind da ja auch noch ein paar Fragen und Probleme ungeklärt.

Seither ist ihre Welt vermutlich noch stärker aus den Fugen geraten als nach dem Überraschungserfolg von Harry Potter. Ein Shitstorm sondergleichen hat sich in den sozialen Netzwerken über sie ergossen, Aufrufe zum Boykott ihrer Bücher und aller damit verbundenen Produkte fluten das Web. Sie kann sich kaum noch auf die Straße trauen.

Hasskommentare und Drohungen, wie sie etwa in diesem Shitstorm ausgeschrieben wurden, fallen sicherlich nicht unter die Kategorie schützenswerte Meinungsäußerung. Eher erfüllen sie die Kriterien von Verleumdung und Verletzung der Sittlichkeit. Aber ganz offenbar gibt es beim sonst ach so gläsernen Internetnutzer keine Möglichkeit, so etwas rechtlich zu verfolgen. In der Anonymität des Internets kann man sich tatsächlich nach Herzenslust austoben.

Ist das die Freiheit, die ich meine?

Was ist mit absichtlich falsch verstandenen oder interpretierten Aussagen etwa in Interviews oder Talkshows? Auch hier ein aktuelles (und mit Zündstoff beladenes) Beispiel: Friedrich Merz – man mag zu ihm und seiner Politik stehen, wie man möchte – hat in einer Talkshow ein Problem angesprochen, das wohl jede Lehrerin hierzulande kennt. Natürlich kann man dagegenhalten, dass ein nicht gerade kleiner Teil deutscher junger Männer ohne jeglichen Migrationshintergrund auch Probleme macht. Das stimmt, aber verschwindet deshalb das Problem, das er angesprochen hat? Nein. Man könnte Merz vorwerfen, besonders gern eine Sorte Probleme anzusprechen und die andere unter den Tisch fallen zu lassen. Auch richtig.

Aber es ist sein gutes Recht, dieser Meinung zu sein und diese Meinung zu vertreten. Trotzdem sieht er sich gerade einer Angriffswelle ausgesetzt, die zarter besaitete Seelen wohl zum Rückzug aus der Politik bewogen hätte.

Ist das die Freiheit, die ich meine?

Immer mehr internationale Sportverbände verpassen ihren Sportlern und teilweise auch deren Teams Maulkörbe. Sie sollen sich um ihren Sport und ihre Leistung kümmern und sich nicht in die Politik einmischen, heißt es. Frisch in Erinnerung dürfte allen noch der Streit um »One Love«-Armbinden anlässlich der Fußball-Weltmeisterschaft in Katar sein. Der siebenfache Formel-I-Weltmeister Lewis Hamilton hat gerade in einem Statement angekündigt, sich vom neuen Sportkodex der Fia nicht davon abhalten zu lassen, »meine Meinung zu Themen zu sagen, die mich leidenschaftlich interessieren«. Chapeau, wenn er das tatsächlich auch in Zukunft tut – und dafür vermutlich Strafen hinnehmen muss, die seine sportliche Karriere behindern und sein Team benachteiligen.

Ist das die Freiheit, die ich meine?

Zum Meinungsfreiheits-Paragrafen im Grundgesetz gehört auch der Satz: Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet.

Wie ist es aber um eine Pressefreiheit bestellt, wenn Verlagshäuser und Rundfunkanstalten in immer stärkerem Maße von Anzeigenkunden abhängig sind? Firmen, Organisationen, finanziell gut gepolsterte Vereine und auch Privatpersonen erkaufen sich redaktionellen Platz mit Anzeigenschaltungen. Und Redakteure, die Produkte oder das Verhalten von Anzeigenkunden kritisieren, haben ihren Job schneller verloren, als sie »Aber« sagen können. Das Nachsehen haben unter anderem kleinere Vereine, die sich mit viel ehrenamtlichem Einsatz etwa der Jugendarbeit oder dem Sport widmen. Für deren Anliegen ist kein redaktioneller Platz mehr vorhanden. Und was ist mit der unabhängigen und möglichst umfassenden Information der Leser*innen?

Ist das die Pressefreiheit, die ich meine?

Wo bleibt die so oft gepriesene Meinungsvielfalt, wenn (fast) alle Zeitungen und Magazine zu einem oder zwei Konzernen gehören? Da liegt es nicht nur nahe, sondern bestätigt sich auch immer wieder, dass Ausrichtung und Meinung gleichgeschaltet werden. Und wie unabhängig und frei können Journalist*innen, Reporter*innen und Redakteur*innen arbeiten, wenn ihnen die Angst vor dem Jobverlust aufgrund der viel gelobten Synergieeffekte im Nacken sitzt?

Ist das die Pressefreiheit, die ich meine?

Weltweit werden tagtäglich Journalist*innen und Reporter*innen mit Hasskommentaren überschüttet, eingeschüchtert und massiv bedroht. Nach Recherchen im Rahmen des Investigativprojekts »Storykillers«, das nach dem gewaltsamen Tod einer indischen Aktivistin und Journalistin ins Leben gerufen wurde, sind Vertreter des publizierenden Berufsstands häufig brutalen persönlichen Hassnachrichten, Drohungen und Verunglimpfungen ausgesetzt – Frauen dabei deutlich schlimmer als Männer. Eine ganze Schattenindustrie verbreitet Falschnachrichten über unliebsame Journalist*innen im Netz, terrorisiert Kritiker mit Hilfe von Bot-Netzwerken und bringt damit eine Lawine von Verunglimpfungen in Gang. Auftraggeber: unter anderem Regierungen, Politiker und Unternehmen. Ich spreche vom Milliardengeschäft »Desinformation«.

Ja, höre ich Sie sagen, in Indien vielleicht, aber doch nicht hier in Europa. Und schon gar nicht bei uns in Deutschland. Nein? Sophia Maier berichtete als Reporterin häufiger von Coronademonstrationen. Dem Nachrichtenmagazin Spiegel, Teil des Projekts »Storykillers«, erzählte sie, dass sie nach so einem Einsatz innerhalb von zwei Tagen allein auf ihrem Instagram-Account rund fünftausend Hassnachrichten erhalten habe, darunter viel Frauenfeindliches. Inzwischen wird sie bei Demos von Sicherheitspersonal geschützt, trotzdem erlebt sie immer wieder Gewalt gegen sich, auch sexualisierte.

Ist das die Pressefreiheit, die ich meine?

Wir haben hierzulande das Recht der freien Meinungsäußerung und dessen sollten wir uns sehr glücklich schätzen. Der Blick auf die Rechtslage in anderen Ländern der Erde lehrt uns entsprechende Dankbarkeit.

Man sagt, die öffentliche Meinung sei der Spiegel der Gesellschaft. Ist denn solcher Hass, solche Häme, die Verunglimpfungen und üblen Drohungen das, was das Land der Dichter und Denker ausmacht?

Es gibt derzeit viel zu viele Möglichkeiten, eine wirklich freie Meinungsäußerung zu beschneiden und Presse und Rundfunk zu lenken. Die Demokratien unserer Welt sind nicht in der Lage, eines ihrer wichtigsten Güter zu schützen – sie stehen genauso hilflos vor dem Problem wie der Einzelne, über den ein Shitstorm hereinbricht.

Was wir nämlich dringend brauchen – und zwar jeder Einzelne genauso wie Gruppen –, ist Toleranz gegenüber und eine sachliche Auseinandersetzung mit der Meinung Andersdenkender.

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