Inspiriert vom »Gedicht für J. S.«, das der in Hannover gebürtige Lyriker Karl Krolow 1965 schrieb, ist hier im Rahmen einer Schreibanregung ein Prosatext entstanden.
Der Bahnsteig ist kalt, Dezember-kalt und es ist schon nach Mitternacht. Er hat mich hergebracht, lieb wie immer. Ich spüre seinen Blick auf mir, musternd und in Gedanken verhangen. Er mag ihn, den hellen Mantel, den ich extra seinetwegen angezogen habe, obwohl er eigentlich zu kalt für das Wetter ist. Den Schal habe ich mir übers Haar gelegt, weiß ich doch, wie sehr es ihn an unsere kleinen Abenteuer im Schnee erinnert. Ganz ohne mein Zutun verbreitert sich mein Mund zu einem Lächeln, dem Lächeln, das er an mir so mag.
Quäle ich ihn? Ja, ich quäle ihn. Aber ich tu’s nicht bewusst. Da ist so vieles, was wir in unserer kurzen gemeinsamen Zeit genossen haben, aneinander schätzen gelernt haben. Und trotzdem: Es ist nicht genug für ein gemeinsames Leben auf einer soliden Basis. Deshalb habe ich die Reißleine gezogen, die Trennung beschlossen.
Ich sehe seinen Blick, weiß, dass er gerade in mich hineininterpretiert, was er gern an mir sehen würde. Zärtlichkeit für ihn, ein Leuchten im Gesicht bei seinem Anblick. Er wünscht es sich so sehr, mein Verlangen nach ihm, nach dem Glück mit ihm. Sehnt meine leise, lustverhangene Stimme herbei. Aber es ist nicht das, was ich ihm geben kann.
Und ich weiß, dass er sich wünscht, der Mann zu werden, an dessen Seite ich glücklich bin. Aber er kann sich nicht ändern. So wenig wie ich. Wir sind nicht füreinander geschaffen.
In der kalten Frostluft drehe ich mich um und beginne mit den ersten Schritten wieder meinen eigenen Weg. Ohne ihn.
© Karin Schweiger 2022